"Ihr alle habt die Schränke voller Bücher, die euch erklären, was alles verloren ist und wie man es wiedergewinnt. Sie enträtseln euch die Geheimnisse der Überlieferung, bis ihr Geheimnis und Rätsel vergessen habt und euch nur noch an Lösungen, Deutungen und Abstraktionen erinnert. Ihr macht euch den Kopf voller Spekulationen, wer Odin ist oder Thor, was ihre Taten bedeuten und wie ihr sie zu verstehen habt, und geht hierhin und dorthin, so fremd diese Wege auch sein mögen, um euch Erklärungen zu besorgen, nach Mustern zu suchen, die ihr schon kennt, einen Raster und eine Formel zu finden, mit der ihr die Götter berechnen und definieren könnt. Unermüdlich sucht ihr nach verborgener Wahrheit und Weisheit, die es zu entschlüsseln gilt, doch ihr findet sie nimmermehr.
Was wirklich verborgen ist, wussten auch die Ahnen nicht und wollten es auch gar nicht wissen: Hel, die Verhohlene, gibt ihr Geheimnis nicht preis, und die Nornen werfen ihre Lose im Stillen. Auch das Wesen der Götter hat Geheimnisse, die niemand kennen kann, aber was sie darüber wussten, das haben euch die alten Seher und Dichter gesagt, und sie haben es so gesagt, dass es jeder verstehen kann, so wie sie es selbst erfuhren und jeder es erfahren kann. Sie haben euch die Geschichten erzählt, in denen ihr die Götter seht, wie sie lieben und hassen, sich mühen und kämpfen, die Welt und die Menschen erschaffen, beseelen und lenken, wie sie leben und wirken, sich in ihren Taten bestimmen und ihr Schicksal meistern. Ihr könnt aus dem Handeln der Götter viel mehr lernen, als ihr euch träumen lässt. Und nur so werdet ihr sie verstehen. Hört ihren Geschichten zu, und sie kehren lebendig in ewiger Gegenwart wieder. Zerpflückt ihr sie in Gedanken und Thesen, Prinzipien und toten Lehren, so seht ihr sie nimmermehr."
Zitat von Munin in der Geschichte "Der Rabe" in "Am Anfang war die Kuh" von Fritz Steinbock