RE: Baltisches Heidentum: Altpreussen, Lettland, Litauen

#1 von Bruder Eberhard , 08.08.2015 23:26

Die einst zahlreichen baltischen Stämme, von denen nur noch die Letten und Litauer übrig geblieben sind (die Esten sind mit den Finnen verwandt), sind als Indoeuropäer besonders eng mit den Kelten, Germanen und Slawen verwandt; ebenso auch deren Heidentum, das sich heutzutage wieder in voller Blüte befindet. Das ist kein Wunder, da sich das Heidentum im Baltikum teilweise noch bis in die Renaissance vor rund 500 Jahren halten konnte, ausserdem über einen starken folkloristischen Hintergrund verfügt und heute einen entsprechend grossen Rückhalt aus der Bevölkerung geniesst.

Die neuzeitliche heidnische Bewegung von Lettland heisst Dievturiba, das Heidentum an sich Dievturi. Die Bewegung wurde 1925 gegründet und 1990 nach dem Austritt aus der Sowjetunion wiederbelebt. Ihr sollen 8000 Mitglieder angehören!

Die heidnische Bewegung Litauens, die Romuva genannt wird, wurde 1967 gegründet, jedoch von den Sowjets unterdrückt und erst ab 1988 toleriert. (Nebenbei: Litauisch ist diejenige Sprache, welche die meisten Gemeinsamkeiten mit allen anderen indoeuropäischen Sprachen in sich vereint, von den germanischen Sprachen wie Deutsch oder Norwegisch, über die keltischen Sprachen wie Gälisch oder Bretonisch, die slawischen Sprachen wie Russisch oder Tschechisch, die lateinischen Sprachen wie Spanisch oder Französisch bis hin zu Griechisch und dem altindischen Sanskrit!)

Im baltischen Heidentum, welches besonders ehrfürchtig mit der Natur verbunden ist, spielen selbstverständlich Naturheiligtümer, die mit Blumenkränzen geschmückt werden, heilige Wälder, Wiesen, Felder, Hügel und Flüsse eine entscheidende Rolle, ausserdem der Ahnenkult, uralte folkloristische Gesänge und Verse (sogenannte Dainas) sowie Götteranrufungen an den Jahresfesten, von denen die Sonnenwenden besonders wichtig sind. Es sind zahlreiche Mythen und Bräuche überliefert, an den Wegrändern stehen oftmals heidnische Schreine und Pfähle. Um 1300 wird über die baltischen Altpreussen (Prussai), welche vom Deutschen Ritterorden ausgerottet worden sind (wobei sich in Ostpreussen einzelne Sprachrelikte noch bis ins 18. und 19. Jahrhundert hielten) gesagt: "Sie hatten auch Wälder, Felder und Gewässer, die sie so heilig hielten, dass sie in ihnen weder Holz zu hauen noch Äcker zu bestellen oder zu fischen wagten."

Angeblich soll es im Mittelalter und schon zuvor einen allerhöchsten heidnischen Priester gegeben haben, der allen baltischen Stämmen (so verschieden sie damals schon waren) vorgestanden, den Titel Crive oder Kriwe getragen und in einem heiligen Eichenwald an einem heute unbekannten Ort namens Romowe bei den Altpreussen gelebt haben soll, wobei dies alles in der Geschichtsforschung umstritten ist. Ansonsten hiessen die heidnischen Priester Vurschayten.

Die allerwichtigsten Götter:
(wobei noch sehr viel mehr bekannt sind, inklusive Mythen)

Dievs (lettisch), Dievas (litauisch), Deywis, Deiws (altpreussisch) = Himmelsgott

Saule (lett., lit., altpr.) = Sonnengöttin

P?rkons (lett.), Perk?nas (lit.), Percunis (altpr.), manchmal auch Perkunos = Donnergott, sehr beliebt

Žemyna (lett., lit., Aussprache: "schemiina") oder zärtlicher Žemyn?l?, Semine (altpr.) = Erdgöttin

Laima (lett., altpr.), Laim? (lit.) = Schicksalsgöttin

Dievs/Dievas ist eindeutig mit dem indischen Dyaus, dem gallischen Dispater, dem germanischen Ziu/Tiwaz, dem nordischen Tyr, dem griechischen Zeus und dem lateinischen Begriff Deus verwandt. Von den altpreussischen Göttern werden in der Forschung nur Curche (Fruchtbarkeitsgott), Parkuns (Donnergott), Patollos (Totengott), Natrimpe und Potrimpos (Gott der Fliessgewässer) anerkannt, wobei auch etliche andere überlieferte Gottheiten echt zu sein scheinen, wie Puschkayts (Erdgott unter dem heiligen Holunderstrauch), wenn man zum Vergleich an die Aussagen von Wolf-Dieter Storl denkt.

In einem Buch entdecke ich grad noch zu den baltischen Gottheiten, auch noch zu ganz anderen, die ich nicht erwähnt habe, aber ebenfalls ausserordentlich wichtig und faszinierend sind, dermassen viele Mythen, die ich hier nicht mal ansatzweise darlegen kann. Als kleines Beispiel mag die Sonnengöttin Saule dienen, auch bekannt als Saule Motul, Mutter Sonne, die mit ihren Töchtern in einer Burg jenseits des Himmelshügels Dausos residiert, in einem Wagen mit kupfernen Rädern, der von Falben gezogen wird, über den Himmelsberg fährt und abends ihre Pferde im Meer reinigt. Die Sonne selbst ist eine Kanne oder ein Löffel, aus dem Licht ausgeschüttet wird. Saules Fest ist die Wintersonnenwende und heisst Kaledos, an der ihre Bilder in Flurumzügen geführt werden; aber auch die Sommersonnenwende, Ligo, steht mit Saule in Verbindung. Bei den Letten heisst es überdies im Volksmund, Saule throne auf der Spitze eines Sonnenbaumes mit goldenen Blättern, vorrangig einer Birke, die im Meer oder hinter einem Berg stehe. Wird ein runder Gegenstand, z.B. ein Apfel, eine Erbse oder ein Kiesel über den Baum geworfen, dann erklingt dieser leise. Saule steht auch in Verbindung mit dem Wachstum der Kornfelder und dem Ährengott Jumis. Alles weitere, z.B. dass Saule häufig wegen ihrer verregneten Laken und aus anderen Gründen weint, würde an dieser Stelle ins Uferlose führen...

Ahnengeister heissen V?l?s (litauisch) oder Ve?i (lettisch), welche noch mit der Sippe in Verbindung stehen können, während die Siela, der unsterbliche Teil der Seele, von den Hügeln zu den Himmelsgefilden aufsteigen oder in Pflanzen, vor allem in Bäumen, wiedergeboren werden können. Lauma (lett.) oder Laum? (lit.) sind weibliche Feenwesen. Kaukas (lit.), Cawx oder Barstukken (altpreussisch) sind Erdgeister, Trolle und Kobolde, mit Ragana werden Hexen bezeichnet. Daneben gab es einen Schlangenkult, wobei diese Tiere als glückbringend galten und mit der Sonnengöttin Saule in Verbindung stehen.


Wozu zu den heutigen Asatruar von Island schielen, wenn bei den heidnischen Romuva in Litauen so etwas, wie bei den folgenden Filmaufnahmen, abgeht?

Aus dem Jahre 2010, mehr als nur beeindruckend, vor allem auch die Gesänge oder die Zitherklänge:
https://www.youtube.com/watch?v=noR1PskjYaQ

Oder das hier aus dem Jahre 2012; da möchte man doch glatt nach Litauen, unglaublich:
https://www.youtube.com/watch?v=vFYuQF4kUrM

Eine heidnische Romuva-Hochzeit:
https://www.youtube.com/watch?v=pjVNO2slLDU

Und zum Vergleich noch ein kleiner Blick zum lettischen Dievturi; ein bisschen beschaulicher:
https://www.youtube.com/watch?v=1dxOceJMU6w

 
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RE: Baltisches Heidentum: Altpreussen, Lettland, Litauen

#2 von Martkos , 15.10.2015 14:47

Sehr spannender Beitrag! Dass das Feuer bei den Balten noch brennt wusste ich, aber bei diesen Bildern staunt man! Die Hochzeit finde ich klasse
Auch landschaftlich ist diese Gegend einmalig - vor allem noch ziemlich ursprünglich. Ich plane bereits seit einiger Zeit mal eine Reise nach Lett- und Estland, für mich als Hobby-Botaniker sind die Wälder des Baltikums ein Mekka

In welchem Buch hast du denn diese Informationen gefunden? Ist das noch erhältlich?


Herzlicher Gruss
Marco

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RE: Baltisches Heidentum: Altpreussen, Lettland, Litauen

#3 von Bruder Eberhard , 15.10.2015 19:01

Vielen herzlichen Dank!

U.a. aus dem Buch "Heidnisches Europa" von Prudence Jones und Nigel Pennick in einer katastrophalen Deutschübersetzung (Arun), bei der etliche historische und geographische Fachbegriffe nicht korrekt aus dem Englischen übersetzt worden sind, wobei es dennoch an sich ein hervorragendes Buch ist. Keine Ahnung, ob es heutzutage eine bessere Übersetzung davon gibt.

Ausserdem die "Enzyklopädie der Mythologie".


Im Mittelalter wurde glaubs von christlichen Missionaren mal der Vergleich zwischen den schwedischen und den prussischen Göttern aufgestellt, wonach Patollos dem Odhinn entspricht, Potrimpos dem Freyr und Parkuns natürlich dem Thor.

 
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RE: Baltisches Heidentum: Altpreussen, Lettland, Litauen

#4 von Bruder Eberhard , 28.10.2016 16:32

Am vergangenen Sonntag erzählte Wolf-Dieter Storl (Ein weitgewandertes Unikat in Sachen Ethno-Botanik, Naturspiritualität, Selbstversorgung und viel, viel mehr, voller Wissen und Weisheit; wer ihn noch nicht kennt, sollte sich mal mit seinen Büchern oder seinen Vorträgen auf Youtube beschäftigen!), dass er auf einer Reise in Lettland mit einer Frau von dort und ihren Kindern durch den Wald gewandert sei. Storl deutete dabei immer wieder auf alle möglichen Pflanzen und Kräuter (die ihm alle bestens bekannt sind) und wollte fragen, ob sie wissen, welche Heilkraft und welche Mythen in ihnen stecken würden. Doch bei JEDER Pflanze fingen die lettischen Kinder von sich aus sofort an, uralte Volksweisen zu singen, in denen es grad um die jeweilige Pflanze ging!

Die Letten (und meines Wissens mehr oder weniger auch die Litauer, wenn auch ein bisschen anders) verfügen noch heute über zahllose heidnische Lieder, nicht nur über ihre Göttinnen und Götter, sondern auch über einzelne Baum- und Pflanzenarten! Storl meinte, dass die baltischen Volksstämme dort heutigentags noch richtige Waldvölker (aus der indoeuropäischen Tradition) seien! Lettland hat rund 1,9 Millionen Einwohner, aber die Letten sagen anscheinend selber von sich, dass sie noch immer eine Million Volkslieder haben (zumeist heidnischen Ursprungs)!


Das erinnert mich an ein Interview, welches ich vor 20 Jahren mit der eher unbekannten (aber guten!) baltisch-folkloristischen Pagan-Metal-Band HA LELA aus dem benachbarten Litauen gelesen habe. Die Bandmitglieder sagten darin sinngemäss, dass wenn sie aus dem Haus, in welchem sich ihr Bandraum befindet, durch die Tür hinaustreten würden, dann seien sie unmittelbar von einem unermesslich weiten, tiefgrünen Wald umgeben! Diese Sichtweise finde ich köstlich: Sie sagen nicht einfach, dass sich ihr Bandhaus in einem grossen Wald befände, sondern dass ihre kleine, "zivilisierte" Dimension des Bandhauses sozusagen der höheren, wilden, grünen Dimension des Waldes im Passiv ausgeliefert ist...


Nach wie vor kann ich empfehlen, zur heidnischen Inspiration und Erbauung die von mir oben vorgebrachten Youtube-Links heidnischer Rituale in Litauen sich zu Gemüte zu führen. Mittlerweile habe ich herausgefunden, dass es sich beim älteren, druidenartig gekleideten Herrn, der darin immer wieder zentral mit seiner Frau zu sehen ist, um Jonas Trinkunas (1939-2014), den obersten heidnischen Priester von Litauen handelt, welcher der Gründer der dortigen Romuva-Bewegung im Jahre 1967 war, die mittlerweile Abertausende Mitglieder oder zumindest folkloristische Sympathisanten hat! Leider ist er mittlerweile verstorben.

Irgendwo fand ich im Internet einmal ein Interview mit Jonas Trinkunas, in welchem dessen Aussagen von der Mentalität und den Ansichten her mich sehr stark an den isländischen Allsherjargodi Hilmar Örn Hilmarsson erinnerten. Leider finde ich besagten Artikel grad nicht.

Dafür ein anderer Zeitungsartikel aus der NZZ von 2008, in welchem Jonas Trinkunas zu Worte kommt:

"Rückbesinnung auf Litauens heidnische Tradition":

http://www.nzz.ch/rueckbesinnung-auf-lit...dition-1.774997

 
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